Peter Thomas
Wir schreiben das Jahr 1906. In der Bürgermeisterei Till am Niederrhein ist es wieder Herbst geworden. Wie so häufig in den letzten Wochen, ist auch heute wieder der Knecht Gerhardus mit dem Fuhrwerk seines Bauern auf dem Weg nach Kleve zum Wochenmarkt.
Er ist müde, denn er musste heute früh aufstehen. 40 Säcke mit Kartoffeln waren zu füllen und auf das Fuhrwerk zu laden. Aber vielleicht lag der wirkliche Grund seiner Müdigkeit darin, dass er gestern auf der Kirmes kräftig gefeiert hatte und dabei vielleicht ein Glas Bier oder zwei zu viel getrunken hatte.
Im Tanzzelt hatte er die Magd Marijke kennengelernt, die sich an einen Bauern in der Nachbarschaft vermietet hatte und die mit ihm einige Tänze wagte. Beim Abschied sagte sie ihm, dass sie sich darüber freuen würde, wenn er auch heute wieder auf die Kirmes kommen würde.
So zockelte er mit seiner Fuhre über die Provinzialstraße (jetzige B 57) Richtung Kleve. Es schien jetzt etwas heller zu werden; die Sonne kam jedoch nicht richtig durch, da der Nebel die niederrheinische Tiefebene noch voll in seinem Griff hatte. Die Pferde schienen es auch nicht eilig zu haben, und da sie den Weg kannten, wickelt sich Gerhardus wegen der Morgenkälte in seine Decke und ließ noch einmal den gestrigen Abend Revue passieren.
So träumte er vor sich hin und malte sich eine rosige Zukunft mit Marijke aus. Dabei achtete er nicht darauf, dass die Pferde aus Bequemlichkeit, und da der Rollwiderstand dort geringer war als auf den Straßenseiten, ihren Weg über die Straßenmitte nahmen.
Die einzigen Geräusche, die Gerhardus vernahm, war das Stampfen der Pferde und das Knirschen der eisenbeschlagenen Räder auf der Steinstraße. Aber diesen Lärm war er gewohnt und so störte er ihn nicht weiter.
Plötzlich – es ging Gerhardus durch Mark und Bein – ertönte hinter ihm ein lautes Dröhnen, dass an ein Nebelhorn eines Schiffes auf dem Rhein erinnerte. Er war sofort hellwach und das war auch notwendig, denn die Pferde, genauso erschreckt wie er, wollten durchgehen und es war ihm nur mit größter Mühe möglich, sie so weit im Griff zu behalten, dass er sie an den Straßenrand leiten konnte.
Da fuhr auch schon mit großer Geschwindigkeit ein Fahrzeug in an ihm vorbei. Er konnte nur noch sehen, dass es rot war und auch bald in den nächsten Nebelschwaden verschwand. Er glaubte zuerst, dass er den leibhaftigen Teufel gesehen hatte, aber bei einigem Nachdenken kam er auf eine unglaubliche Erzählung, die er an einem der letzten Sonntage beim Frühschoppen von einem durchreisenden Händler, der gerade aus Düsseldorf kam, gehört hatte.
Demnach war es vor einigen Jahren irgendwo in Baden einem Carl Benz gelungen, mit einer dreirädrigen Karre, die sich ohne Pferd oder sonstigem Zugtier bewegte, eine enorme Strecke auf der Straße zurückzulegen. Und es war, als ob die gesamte Welt nur auf dieses Vehikel gewartet hätte, denn schon in den 1890er Jahren entstanden die ersten Fabriken für die sogenannten Automobile, die weltweit im Jahr 1900 knapp 10.000, aber schon zehn Jahre später 250.000 Kraftfahrzeuge pro Jahr produzierten. 1894 fand schon das erste Autorennen statt. Aufgrund der hohen Anschaffungskosten war das Interesse vor allem bei den gutsituierten Fabrikbesitzern und Adligen hoch. Auch in der Bürgermeisterei Till soll bereits solch ein Automobil herumfahren und eben das hatte Gerhardus heute gesehen.
Bis in die Neuzeit kannte die Bürgermeisterei Till weder einen öffentlichen Nahverkehr, noch einen Bahnhof auf ihrem Territorium. Die einzige Verbindung zur Außenwelt stellte die 1831 fertiggestellt Provinzialstraße Kleve-Kalkar-Xanten dar. Erst im Jahre 1904 wurde mit der Fertigstellung der Eisenbahnlinie Trompet – Kleve (Hippelandexpress) jeweils ein Bahnhof in Till-Moyland und in Hasselt erbaut. Später kam noch der Haltepunkt Qualburg hinzu. Der einzige heute noch existierende Bahnhof Bedburg-Hau wurde durch den Neubau der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau im Jahre 1908 notwendig.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war den Menschen in unserer Gemeinde also nur ein Verkehr vertraut, dessen Menge überschaubar und dessen Geschwindigkeit recht beschaulich war. Das schnellste Verkehrsmittel war die Eisenbahn, die seit dem 1.3.1863 täglich einige Male durch unsere Gemeinde fuhr. Auch hier war die Geschwindigkeit nur mäßig, denn der Zug benötigte z. B. für die 12,8 km lange Strecke von Goch nach Kleve rund 21 Minuten. Das entsprach, da unterwegs noch in Pfalzdorf und ab 1908 auch in Bedburg-Hau angehalten werden musste, einer Durchschnitts-Geschwindigkeit von rd. 40 km/h. Erst im Jahre 1921 fanden Versuche statt, die Fahrgeschwindigkeit auf 60 km/Stunde zu erhöhen.
Mobilität war damals nicht so wichtig wie heute, denn man arbeitete meistens dort, wo man wohnte. Die längeren Strecken in die nächste Stadt wurden zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit einem Tilbury (leichte einspännige und einachsige Kutsche) oder einer Chaise (leichte zweisitzige Kutsche mit beweglichem Dach) zurückgelegt.
Bereits im Jahr 1901 wurde der Rheinisch-Westfälische Automobil-Club als einer der ersten Ortsclubs gegründet. Er verband sich später im DAC (Deutscher Automobil-Club, gegründet 1899) mit anderen Ortsclubs und dieses führte zum heutigen AvD.
Dieser Rheinisch-Westfälische Automobil-Club hatte es sich unter anderem auch zur Aufgabe gemacht, aufklärend auf die Menschen zu wirken, die ja nun mit der neuen, ungewohnten Technik fertig werden mussten. Gesetzeswerke und Regeln gab es erst sehr wenige, denn sie mussten erst entwickelt werden.
Trotzdem, Vorsicht war angebracht, denn die neue Technik brachte auch höhere Geschwindigkeiten mit sich, die häufig Unfälle verursachte, weil keiner richtig damit umgehen konnte und die Straßen auch nicht für solch einen Verkehr eingerichtet waren.
Eine Maßnahme des Vereins war die Herausgabe von Merkbüchern für Automobilisten und Pferdehalter und sogar für Schulkinder.
Am 11. April 1909 wurden über den Landrat alle Bürgermeister vom Regierungspräsidenten zu Düsseldorf auf diese Merkbücher hingewiesen mit dem Vermerk, dass er dem Verein seine Unterstützung sowie amtliche Beihilfe zugesagt habe. Die benötigten Exemplare sollten innerhalb von 14 Tagen dem Landrat gemeldet werden.
Dies wurde schon vier Tage später vom Bürgermeister Oedenkoven erledigt. Er schrieb, dass in seinem Bezirk 500 Gespannhalter und Pferdeführer, 2 Automobilführer und 11 Volksschulklassen vorhanden sind. Die Merkbücher erhielt er bereits mit Schreiben vom 1.6.1909, wobei der Automobilclub sogar bereit war, die Kosten für die Verteilung an Gespannhalter und Automobilführer zu übernehmen.
Die gleichen Hinweise hätte man auch fünfzig Jahre später noch an meiner Volksschule verteilen können, denn alles das, vor dem dort gewarnt wurde, haben wir getan. Wir kannten zwar in unserer Kindheit Lastwagen, Autos und Motorräder, aber das stellte für uns keine Bedrohung dar, sondern nur eine spannende und interessante Abwechslung im Tagesverlauf. Die Straße gehörte uns Kindern. Wir waren dort zu jeder Tageszeit in kleinen und größeren Trupps anzutreffen (spätestens nach Schulschluss).
Obwohl seit dem Erlebnis von Gerhardus rund 50 Jahre vergangen sind und die Technik für eine rasante Entwicklung des Automobils gesorgt hatte, änderte sich in Deutschland für den normalen Verbraucher nichts. Bedingt durch den Zweiten Weltkrieg, der Zerstörung der Industrie und Infrastruktur und der Inflation bis 1948 konnten sich in den 50er und 60er Jahren nur die Wohlhabenden ein Auto leisten. Gängig waren bei uns (Bergarbeitersiedlung in einer Kleinstadt im jetzigen Kreis Heinsberg) Fahrräder für die Erwachsenen und Roller für die Kinder. Die Zustellung schwerer Lasten, wie Deputatkohle für die Beheizung der Öfen und die Lieferung der Einkellerungskartoffeln durch die Bauern, z.T. im Tausch mit der Kohle, wurden meistens noch mit Pferdegespannen durchgeführt. Asphaltiert wurden bei uns die Straßen erst in den 70er Jahren – auch die Bürgersteige wurden in dieser Zeit erstmalig befestigt.
Trotzdem hatte der Autor, wie Sie an dem undatierten Bild aus den Jahren 1953 oder 1954 ersehen können, schon früh ein Interesse an der neuen Technik entwickelt und hätte damals durchaus seinen Roller gegen das interessante neue Fahrzeug eingetauscht, ohne zu ahnen, dass das Auto nur wenige Jahre später bis in die heutige Zeit zum wichtigste Statussymbol und Fortbewegungsmittel der Menschen in Deutschland werden sollte.
In Folgeartikeln werde ich die Merkblätter für Gespannhalter, Pferdeführer und Automobilisten veröffentlichen. Weiterhin werde ich auf die Straßenverhältnisse im Amt Till eingehen, die neuen Verkehrsschilder vorstellen und über den ersten protokollierten Unfall mit einem im Amt Till zugelassenen Auto berichten.
Quelle:
Gemeindearchiv Bedburg-Hau, BT 607
Literatur:
http://nrwbahnarchiv.bplaced.net/strecken/2610.htm, 04.08.2017
http://wikipedia.org/wiki/Chaise, 04.08.2017
http://de.wikipedia.org/wiki/Stanhope_(Kutsche), 04.08.2017
https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftszahlen_zum_Automobil, 04.08.2017
http://www.rwac.de/, 04.08.2017