Peter Thomas
Das erste "bedingt alltagsfähige“ Automobil wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfunden. Vorgängertypen, die mit Dampfkraft bewegt wurden, waren zu unhandlich und wurden daher nicht weiter entwickelt. Die neue Erfindung traf auf eine Infrastruktur, die nur bedingt für den Gebrauch von Automobilen ausreichte:
es gab Wege und Straßen,
es gab Apotheken, wo Automobilisten Benzin erhalten konnten,
Reparaturwerkstätten waren nicht vorhanden – aber das war nicht so tragisch, da überall Schmiede und Wagenbauer anzutreffen waren, die in diesem frühen Stadium der Automobiltechnik notleidenen Automobilen aufgrund ihrer Kenntnisse aus der Wartung und Reparatur von landwirtschaftlichen Geräten wieder flott machen konnten.
Wie sah es in dieser Beziehung in der Bürgermeisterei Till aus?
Nun, nehmen wir Punkt 2 und 3 vorab. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in der gesamten Bürgermeisterei keinen Arzt und keine Apotheke. Im Notfall wandte man sich an Mediziner und Apotheker in Kalkar oder Kleve – es gab also kein Benzin im Amt Till. Das änderte sich erst im Jahre 1927, als in Hasselt die erste Tankstelle eröffnet wurde.
Im Jahre 1909 lebten im Amt Till rd. 500 Fuhrleute mit entsprechenden Fuhrwerken oder Kutschen. Sie arbeiteten, wie auch die anderen Einwohner, überwiegend für die Landwirtschaft, in der mittlerweile auch schon viel mit Dampfmaschinen gearbeitet wurde. Schmiede und Stellmacher (Wagenbauer) gab es daher in jedem Dorf.
Und die Straßen in der Bürgermeisterei Till mit fast 100 km Länge. Wie musste man sich diese vorstellen?
Das älteste im Gemeindearchiv vorliegende Straßenverzeichnis stammt aus dem Jahre 1857. Es wurden insgesamt 62 Wege in diesem Wegelagerbuch der Bürgermeisterei Till mit den Ortschaften Till, Moyland, Riswick, Schneppenbaum, Hasselt , Qualburg und Louisendorf aufgeführt, wobei die Gesamtlänge rund 26.000 preußische Ruten zu jeweils 12 Fuß betrug. Bei rd. 3,77 m pro Rute kann von einer Gesamtlänge von rd. 98 km ausgegangen werden.
Da die Wege keine Namen trugen, mussten sie genau beschrieben werden, damit jeder wusste, welcher Weg gemeint und wie sein Verlauf war. Als Beispiel sehen Sie hier in einen Ausschnitt aus dem Wegelagerbuch die Beschreibungen der Wege 43 bis 45.
Transkribiert liest sich die Beschreibung des Weges 45 (Ausschnitt) wie folgt:
Beschreibung des Weges nach Richtung etc. Von Huisberden nach Till |
Länge Ruten |
Breite Fuß |
1. Anfangend an der Huisberdschen Grenze mit einer Breite von |
|
42 |
2. Schmaler werdend nach einer Länge von |
3,6 |
24 |
3. Weiter bis auf den Deich |
10,2 |
24 |
4. Breiter werdend nach einer Länge von |
5,8 |
28 |
5. Gerade aus bis zur Biegung |
13,00 |
26 |
(1 Rute entspricht ca. 3,77 m, 1 Fuß entspricht ca. 31 cm)
Wir können davon ausgehen, dass seit dem obigen Aufzeichnungsjahr keine neuen Straßen oder ausgebaute Wege mehr in der Bürgermeisterei gebaut wurden, denn im Verzeichnis der am Ende des Jahres 1906 fertig ausgebauten und im Ausbau befindlichen Chausseen und gebauten Wege wurden nur solche aufgeführt, die vor 1856 gebaut wurden.
Es handelt sich hierbei um genau fünf Straßen mit Teilverläufen im Amtsbezirk Till (u.a. die Sommerlandstraße, Uedemer Straße und die Berksche Straße). Die Gesamtlänge der durch die Gemeinden zu unterhaltenden Durchgangsstraßen betrug genau 29.708 Meter.
Das obige Verzeichnis trägt auf dem Deckblatt den Hinweis: Ausgebaut im techn. Sinne sind die aufgeführten Straßen nicht einmal.
Das bedeutet, dass – obwohl die Straßen als ausgebaut aufgeführt sind -, es sich im Prinzip nur um befestigte Wege handelte. Die in der Aufstellung aufgeführten Wege waren bis zu 24 Meter Breite planiert, wovon jedoch nur anteilig 4 Meter mit einer Kiesschüttung einfach befestigt war.
Am folgenden Lichtbild (aufgenommen im August 2012 in der Lüneburger Heide zwischen Undeloh und Wilsede) können Sie erkennen, wie die Wege in der Aufstellung von 1906 ausgesehen haben müssen. Links erkennen sie einen befestigten Fahrdamm, der kaum Spuren der andauernden Nutzung aufweist. Rechts daneben verläuft der sogenannte Sommerweg, der, wie es der Name sagt, fast ausschließlich nur im Sommer genutzt werden konnte. Er diente als Ausweichstrecke für die Fuhrwerke bei Reparatur des Hauptweges und als schnellerer Weg für leichtere Kutschen. Der Sommerweg wurde kaum oder gar nicht befestigt und wies durch den Gebrauch tiefe Rinnen und deutliche Unebenheiten auf.
Um als ausgebaute (hochwertige) Straße bzw. Chaussee zu gelten mussten Bankette angelegt werden um den Fuhrwerken Möglichkeiten zum Ausweichen zu bieten. Auch dienten die Bankette zur Lagerung des für die Straßen benötigen Ausbesserungsmaterials. Die Entwässerung der Straßen wurde über die parallel verlaufenden Gräben geregelt. Das Grundkonzept hat sich bis heute nicht geändert, nur verlaufen jetzt die Gräben als Rohre in oder unter der Straße.
Das heißt aber auch, dass das übrige Wegenetz der Bürgermeisterei von rd. 68 km aus noch schlechter befestigten Wegen als die oben genannten bestand. Wie es teilweise um die Nebenwege stand, geht aus einem Protokoll des Gemeinderates von Louisendorf vom 8.3.1877 hervor. Hier beklagt der Bürgermeister, dass die Nebenwege sich in einem so schlechten Zustande befänden, dass es den Schulkindern unmöglich sei zur Schule zu gehen. Zur Ehrenrettung des Gemeinderates muss gesagt werden, dass er sofort 150 Mark für die Instandsetzung der Wege bewilligte.
Aber wie sollten auf solchen Straßen bzw. Wegen Autos fahren?
Die Gemeinden waren verpflichtet ihre Straßen und Wege instand zu halten. Dafür hielten sie separate Etats vor, die jedoch in der Höhe stark schwankten. So wurde in der Gemeinde Louisendorf im Jahr 1874 ein Betrag von 1.215 Mark angesetzt, im Jahr 1878 jedoch nur von 690 Mark, so dass es durch aus auch vorkommen konnte, dass der Landrat zur Instandhaltung bestimmter (Durchgangs-) Straßen einen Zwangsetat zu Lasten der Gemeinden durchsetzen musste. In der Gemeinde Till-Moyland wurden ähnlich hohe Etats angesetzt. Die Gesamtetats der Gemeinden lagen in diesen Jahren bei rd. 8.000 Mark für Louisendorf und 15.000 Mark für die Gemeinde Till-Moyland.
Die Pflege der öffentlichen Wege konnte man nicht den Anliegern überlassen, denn es war Aufgabe der Wegeunterhaltungspflichtigen (das war i. d. Regel die Gemeinde oder der Provinzialverband) die Instandhaltung und Nutzbarkeit dieser Wege und Straßen zu organisieren und zu finanzieren. Es mussten daher Mitarbeiter zur Pflege der Wege angestellt werden. Wann die ersten Wegewärter eingestellt wurden, ist mir nicht bekannt, aber aus den Unterlagen ist ersichtlich, dass bereits im Jahr 1876 ein neuer Wegewärter eingestellt wurde.
Der Beruf des Wegewärters war nicht besonders angesehen und auch schlecht bezahlt. Ein Ratsprotokoll der Gemeinde Louisendorf aus dem Jahre 1907 schildert dieses sehr ansehnlich:
So wurde, um zunächst einmal seitens der Gemeinde die Wegewärter besser beaufsichtigen zu können und sich leichter mit Ihnen auseinandersetzen zu können, eine Wegebaukommission gewählt, die aus 3 Mitgliedern des Gemeinderates bestand und die beim schriftlichen Vertrag mit dem Wärter folgende Punkte besonders berücksichtigen sollte:
Als Lohn soll derselbe für jeden Arbeitstag 3 Mark erhalten, zahlbar in vierteljährlichen Nachzahlungen. An jedem Werktage soll der Wegewärter verpflichtet sein, auf den Wegen zu arbeiten. Er darf keine andere Arbeit übernehmen, es sei, welche es wolle.
Im Falle der Erkrankung des Wegewärters soll ihm der Tagelohn von 3 Mark je nach dem Gutdünken der Wegebaukommission dennoch gewährt werden, nicht jedoch, wenn er nicht oder nicht aus einem wichtigen Grunde seiner Arbeit nicht nachkommt. Diese hat er in erster Linie nach der Anweisung des Gemeindevorstehers auszuführen. Bei der Arbeit darf ihn jedes Mitglied des Gemeinderats kontrollieren, namentlich aber müssen ihn die Mitglieder der Wegebaukommission beaufsichtigen. Die Letztere ist befugt, nach ihrem sachgemäßen Urteil dem Wegewärter ohne Enthaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen, wenn derselbe für andere Herren Arbeit verrichtet, sich grobe Pflichtverletzung zukommen läßt oder sonst ein wichtiger Grund vorliegt, namentlich auch, wenn er sich dem Trunke ergiebt. Sollte die Pflichtverletzung schon länger zurückliegen, so soll die Gemeinde berechtigt sein, den Lohn bis zu drei Monaten zurück nach dem Urteile der Wegebaukommission zurückzubehalten.
Die Armenwohnung soll dem Wegewärter für den Fall, daß er heiratet, oder unter Umständen auch sonst gewährt werden.
Trotz besonderem Etat und Anstellung von Wegewärtern wurden von den damaligen Ämtern die bestehenden Wege aus Kostengründen nur insoweit instandgehalten, als es unumgänglich war, denn Hilfe durch die Provinz oder den Kreis gab es für die Ortsstraßen nicht, wie es ein Schreiben des Landeshauptmannes der Rheinprovinz vom 2.3.1906 noch einmal ganz deutlich darstellt. Auch waren diese Orts-Straßen nicht sehr leistungsfähig, Aus einem Amts-Protokoll vom 4.12.1906 ist ersichtlich, dass das Höchstladegewicht für zweirädrige Fuhrwerke maximal 2.500 kg und für vierrädrige Fuhrwerke höchstens 5.000 kg betragen durfte, aber auch nur dann, wenn die Felgenbreite über 10 cm betrug.
Eine positive Ausnahme bei den Straßen im Amt Till war die chaussierte Provinzialstraße, die von Xanten über Kalkar, an Schloss Moyland, Hasselt und Qualburg vorbei nach Kleve führte. Diese Straße wurde von der Provinzialverwaltung instandgehalten und gepflegt.
Chaussiert sagt etwas über die Qualität der Fahrbahnbefestigung aus: nach einer erfolgten Planierung des Bodens wurde eine 10 bis 13 Zentimeter starke Packlage und darauf eine ebenso starke Decklage, die aus einem möglichst hartem Steinmaterial bestehen sollten, aufgetragen und festgewalzt. Dabei war es äußerst wichtig, dass in den ersten Wochen an jedem Morgen (auch an Sonn- und Feiertagen) Schlagensteine verlegt wurden (die abends wieder ausgebaut werden mussten), um die Fuhrleute zu zwingen die Straße in Schlangenlinien zu befahren um Spur- und Rillenbildung zu vermeiden. Bei einer ordnungsgemäßen Herstellung und Pflege waren die sog. Kunststraßen lange haltbar.
Die Schlangensteine wurden in einem Abstand von ca. 40 Metern verlegt. Bei der gegebenen Geschwindigkeit eines Fuhrwerks war das wahrscheinlich kein Problem – aber für ein Automobil?
Welche Probleme sich auch für Fuhrwerke ergeben können, wenn keine Sperrsteine verlegt wurden, sind aus dem Bericht des Gendarmerie-Wachtmeisters Jeziórski vom 25.2.1907 ersichtlich. Als zuständiger Mitarbeiter der 8. Gendarmerie-Brigade, Krefelder Offizier-District, Gelderner Beritt, schreibt er wörtlich an das Bürgermeisteramt Till-Moyland:
Dem Bürgermeisteramte zeige ich hiermit an, daß auf der Gocherstraße zwischen den Gemeinde-Tafeln Keppeln - Neuluisendorf seit einigen Tagen keine Sperrsteine gelegt wurden.
Die Fuhrwerke fahren fast alle in einem Geleise. Daher ist die Radspur in der Mitte des Weges 15 - 25 cm tief ausgefahren, in welcher voll Wasser steht.
Wenn während der Fahrt sich zwei schwer beladene Fuhrwerke begegnen, so ist ein Ausbiegen fast unmöglich.
An dieser Stelle könnte ich Ihnen noch vieles über den Straßenbau und die Straßenverhältnisse im 19. Jahrhundert schildern, z.B. über die Rotherschen Bedingungen aus dem Jahre 1834, Verpachtung der Grasnutzung auf den Kommunalwegen (1882), Errichtung und Aufhebung von Barrieren (Zahlung von Barrieregeld) auf den Chausseen (bis 1892), u.a. auf der Straße Goch-Kalkar. Aber das würde in diesem Rahmen zu weit führen.
Quelle:
Gemeindearchiv Bedburg-Hau, BT 626, BT 1203, BT P14
Literatur:
https://de.wikipedia.org/wiki/chaussee, 16.09.2017
http;//www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?werk=Brockhaus&id=136394&imageview=true, 16.09.2017
Instruction über die Erhaltung von Chausseen. Herausgeber: Königliche Regierung, Münster, den 30. Juni 1869, Faksimile Druck, mit begleitenden Informationen von Hans Daniel.